Polemische Kritik an Regierungspolitik zulässig

Ein Journalist veröffentlicht auf „X“ folgende Kurznachricht:

Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!

Am Ende der Kurznachricht ist der Artikel eines Online-Nachrichtenmagazins verlinkt, dessen Überschrift „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“ und dessen Titelbild – die beiden Ministerinnen Baerbock und Schulze – erkennbar sind. Die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Entwicklungshilfeministerium, fordert Unterlassung und beantragt nach erfolgloser Abmahnung den Erlass einer Einstweiligen Verfügung gegen den Journalisten.

Das Landgericht weist den Antrag durch Beschluss zurück. Auf die Beschwerde der Antragstellerin untersagt das Oberlandesgericht dem Journalisten die beanstandete Äußerung. Dabei handele es sich um eine unwahre Tatsachenbehauptung, weil die Entwicklungshilfe-Gelder tatsächlich nicht „an die Taliban“ gezahlt würden, sondern Projekten zur Unterstützung der Bevölkerung in Afghanistan zugutekämen, welche „regierungsfern“ umgesetzt würden. Gegen diese Entscheidung legt der Journalist unmittelbar Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht ein.

Das BVerfG hebt die Entscheidung auf. Schon die Bejahung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde lässt aufhorchen. Denn grundsätzlich gilt, dass vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde alle regulären Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen. Das BVerfG dispensiert den Beschwerdeführer hiervon mit der Begründung, ein möglicher Widerspruch gegen die Einstweilige Verfügung ebenso wie die mögliche Hauptsachenklage seien angesichts der erneuten Zuständigkeit des Oberlandesgerichts in der Berufungsinstanz aussichtslos. Auf einen Rechtsbehelf, der von vornherein aussichtslos erscheine, dürfe der Beschwerdeführer nicht verwiesen werden.

In der Sache stellt das BVerfG mit deutlichen Worten die Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit speziell im Fall öffentlicher Kritik an staatlichen Einrichtungen heraus: „Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet“. Es sei deshalb verfehlt, die angegriffene Aussage isoliert von ihrem Äußerungskontext als (unwahre) Tatsachenaussage zu würdigen. Vielmehr ergebe sich für den Durchschnittsleser bereits aus der sichtbaren Überschrift des verlinkten Presseartikels, dass sich der Beschwerdeführer mit dem Inhalt des Artikels habe wertend auseinandersetzen wollen. Somit sei eine Sinndeutung des Inhalts naheliegend, dass der Beschwerdeführer in der Zahlung von „Entwicklungshilfe für Afghanistan“ de facto die Gefahr einer Unterstützungsleistung für die dort herrschenden Taliban sehe. Dieser Tatsachenkern werde von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen. Wenn sich Tatsachenaussage und Meinung vermischten, sei die Aussage insgesamt im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes als Meinungsäußerung anzusehen. Bei wertenden Aussagen mit zutreffendem Tatsachenkern sei das Argument der Klägerin, staatliche Einrichtungen vor unbotmäßiger Kritik zu schützen, um ihre Funktionsfähigkeit zu erhalten, von vornherein zu verneinen: „Es hätte dann dabei zu verbleiben, dass der Staat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten hat. “ (BVerfG Beschl. v. 11.04.2024, Az. 1 BvR 2290/23 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2024/04/rk20240411_1bvr229023.html).

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